Routine-OP löst Rekord-Schmerzensgeld in Höhe von 800.000 € aus

(Beitrag vom 25. Mai 2021)

Am 06.11.2019 verurteilte das Landgericht Gießen das Uniklinikum Gießen zu 800.000 € Schmerzensgeld (Az.: 5 O 376/18). Doch wie löste eine scheinbar harmlose Routine-OP eine solche Rekord-Schmerzensgeldsumme aus?

Im konkreten Fall zog sich ein 17-jähriger Jugendlicher im Jahr 2013 beim Fußballspielen eine Nasenbeinfraktur zu. In dem Universitätsklinikum Gießen empfahlen ihm die Ärzte, die Nasenbeinfraktur im Rahmen einer Routineoperation zu behandeln. Im Verlaufe der Operation, in der sich der Jugendliche in Vollnarkose befand, kam es, aufgrund eines fehlerhaften Anschlusses der Schläuche am Beatmungsgerät, zu einer etwa 25-minütigen Sauerstoffunterversorgung. Diese Sauerstoffunterversorgung führte dazu, dass der Jugendliche noch während der Operation eine schwere irreversible Hirnschädigung erlitt. Seither befindet sich der Geschädigte im Wachkoma, wird mit Hilfe einer Magensonde ernährt und muss rund um die Uhr gepflegt werden. Des Weiteren erblindete der Geschädigte und verlor zugleich auch seinen Geruchs- und Geschmackssinn. Ein eigenständiges Leben zu führen wird dem jungen Mann wohl nie wieder möglich sein.

 

Die Entscheidung des Gerichts

Bei der vorliegenden Entscheidung handelt es sich insoweit um eine Besonderheit. Eine solch hohe Schmerzensgeldsumme ist eher bei Geburtsschäden mit schwerem Gesundheitsschaden üblich. Der Geschädigte hier befand sich allerdings schon im Teenageralter. Die hohe Summe von 800.000 € begründete das Gericht insbesondere damit, dass der erlittene Gesundheitsschaden als sehr schwerwiegend und kaum vorstellbar eingeordnet werden müsste. Weiterhin hat das Gericht berücksichtigt, dass der, zum Urteilszeitpunkt 23-jährige Mann, „die Fähigkeit verloren [hat], seine eigene Person und seine Umwelt zu erleben und ein aktives, selbstbestimmtes Leben zu führen. Der damit verbundene weitgehende Verlust der Persönlichkeit wiegt schwer.“

Zu dem „fortgeschrittenen“ Alter des Geschädigten führte das Gericht an, dass es sich nicht schmerzmindernd auswirke, dass das der Geschädigte die Schädigung „erst“ im Alter von 17 Jahren erlitt und damit eine gewöhnliche Kindheit durchleben konnte. Eine Reduktion des Schmerzensgeldes im Vergleich mit Fällen schwerer Hirnschädigung bei Säuglingen oder Kleinkindern komme indes nicht in Frage, da unklar sei, ob der Geschädigte „eine Erinnerung an sein Leben vor dem schädigenden Ereignis hat und damit wahrnimmt, dass ihm jegliche Lebensperspektive genommen wurde.“ Zuletzt führt das Gericht an, dass sich ein „voll beherrschbares Risiko“ verwirklicht hat, das hätte vermieden werden können und müssen.

 

 

Reichweite des Urteils

Bei seinem Urteil hob das Gericht besonders hervor, dass es sich nicht an die derzeitige Obergrenze von 500.000 € für ein Schmerzensgeld in Fällen besonders schwerer Gesundheitsschäden (OLG Köln, Urt. v. 05.12.2018 – 5 U 24/18) anschließe. Dies tut es insbesondere deswegen nicht, weil bereits andere Oberlandesgerichte diese Obergrenze nicht gezogen hatten. Das Gericht ist sich zwar bewusst, dass es sich bei dem ausgeurteilten Schmerzensgeld in Höhe von 800.000 € um einen der höchsten in Deutschland bislang ausgeurteilten Schmerzensgeldbeiträge handelt, hält dies aber im konkreten Fall für angemessen.

 

 

FAZIT

Insgesamt hat sich das Gericht mit seinem Urteil vor allem für Schwerstgeschädigte und deren Familien eingesetzt. Es reiht sich damit bei den in den vergangenen Jahrzenten vereinzelt hohen Schmerzgeldurteilen bei Schwerstgeschädigten ein und trägt somit einer positiven Entwicklung in den Fällen bei, in denen es um schwerste Schäden und ihre Folgen geht.

Zum Teil wird diskutiert, ob für die Entscheidung zum angemessenen Schmerzensgeld andere Bemessungskriterien heranzuziehen sind, wie beispielsweise ein taggenau berechnetes Schmerzensgeld.  Das OLG Frankfurt hat in seiner Entscheidung vom 18.10.2018 (Az.: 22 U 97/16) ein solches befürwortet. Überwiegend wird dennoch zur Bemessung des Schmerzensgeldes die Schmerzensgeldtabelle zurückgegriffen. Der BGH hat sich zu der Frage des „Taggenauen Schmerzensgeldes“ noch nicht positionieren können.

Die Höhe der Schmerzensgeldzahlung bestimmt das Gericht nach seinem Ermessen. Um solch hohe Schmerzensgeldforderungen, wie im eingangs beschriebenen Fall, geltend zu machen, ist es daher von besonderer Bedeutung dem Gericht den Behandlungsfehler so konkret, wie nur möglich darzulegen. In der Rechtsprechung ist die Tendenz zu höheren Schmerzensgeldern erkennbar.

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