Kündigung nach Praxisübernahme – Umgehung des Betriebsübergangs?

(Beitrag vom 11. Juni 2021)

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seinem Urteil vom 22.06.2011 (Az.: 8 AZR 107/10) entschieden: die Veräußerung einer Arztpraxis verpflichtet den Praxisnachfolger nicht immer dazu, die Praxismitarbeiter zu übernehmen.

Bei einem Betriebsübergang  handelt es sich um die Übertragung eines Betriebs oder eines Betriebsteils auf ein anderes Unternehmen. Hiervon umfasst sind auch Arztpraxen. Um den Arbeitnehmer in einem solchen Fall zu schützen, damit dieser keine Angst vor einer Kündigung haben muss, sichert der § 613a BGB dem Arbeitnehmer zu, dass die Arbeitsverhältnisse mit allen Rechten und Pflichten auf den neuen Inhaber übergehen. Zudem wird eine Kündigung des Arbeitnehmers aufgrund des Betriebsübergangs als unwirksam eingestuft.

Im konkreten Fall ging es um die Veräußerung einer Arztpraxis und die Frage, ob ein Betriebsübergang stattgefunden hat. Eine, sich in Elternzeit befindende, Arzthelferin klagte gegen die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses. Die bisherige Praxisinhaberin veräußerte aus Altersgründen ihre Praxis an eine Nachfolgerin. Die Nachfolgerin führte diese Praxis wenige Kilometer entfernt in anderen Räumlichkeiten, mit eigenem Inventar und anderem Personal fort. Die ehemaligen Praxisräume wurden hingegen verkauft und fortan privat genutzt. 

Laut BAG war die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wirksam, da nicht jeder Praxisverkauf gleichzeitig als Betriebsübergang einzuordnen sei. Indizien, die für einen Betriebsübergang gesprochen hätten wären demnach gewesen:

  • Die Art des betreffenden Betriebs.
  • Der Übergang materieller Betriebsmittel sowie deren Wert und Bedeutung.
  • Die Übernahme immaterieller Betriebsmittel und der vorhandenen Organisation.
  • Der Grad der Ähnlichkeit mit der Betriebstätigkeit des bisherigen Inhabers.
  •  Die Weiterbeschäftigung der Hauptbelegschaft.
  • Der Übergang von Kundschaft und Lieferantenbeziehungen.
  • Die Dauer einer eventuellen Unterbrechung der Betriebstätigkeit.

Im vorliegenden Fall habe die Nachfolgerin die Praxis der bisherigen Ärztin nicht als wirtschaftliche Einheit fortgeführt. Ein Betriebsübergang liege demnach nicht vor. Bei der von der bisherigen Praxisinhaberin und der Nachfolgerin getroffenen Vereinbarung handele es sich laut BAG vielmehr nur um den Verkauf der kassenärztlichen Zulassung.

Bei der kassenärztlichen Zulassung (KV) handelt es sich um ein Erfordernis, gesetzlich Krankenversicherte Patienten behandeln zu können. Diese KV ist beim örtlichen Zulassungsausschuss zu beantragen und richtet sich nach den Voraussetzungen des § 103 IV SGB V. Als Voraussetzungen werden dort u.a. die berufliche Eignung, das Approbationsalter und der Sitz als niedergelassener Arzt genannt. Bei einem Praxisverkauf kann die KV mitverkauft werden unter der Prämisse, dass eine Praxis vorhanden ist, die der Nachfolger fortführen will. Einem Arzt, der die vorhandene Praxis nicht fortführen will, darf keine Zulassung nach § 103 IV SGB V erteilt werden. Ein isolierter Zulassungskauf, d.h. ein Kauf der Zulassung, ohne dass die Praxis miterworben wird, ist demnach nicht zulässig. Der Fortführungswille hingegen ist als Begriff sehr weit gefasst. Die Fortführung der Praxis wird in der Regel nur gegeben sein, wenn die Funktionseinheit des Inventars, Personals etc. und - auf Grund des Außenauftritts der Praxis – die Patientenbindung soweit als möglich erhalten bleiben. Inwieweit jedoch die Fortführungsabsicht nachgewiesen werden muss und ob (oder wie) die Erteilung der Zulassung von der Fortführung abhängig ist, regelt das Gesetz jedoch nicht. Damit ist nur der subjektive Fortführungswille maßgebend.

 

Fazit:

Die fehlende Regelung hat zur Folge, dass eine KV grundsätzlich zwar nicht verkauft werden darf, ohne dass gleichzeitig ein Betriebsübergang stattfindet. Wird eine Arztpraxis jedoch nicht fortgeführt liegt hier kein feststellbarer Verstoß vor, da die Fortführungsabsicht zwar gegeben sein muss, diese aber nicht nachzuweisen ist.

Diese Umgehungsmöglichkeit in Form von „Rosinenpickerei“ zeigt sich deutlich in dem hier besprochenen Urteil. Um die kassenärztliche Zulassung zu bekommen, habe man einerseits den Fortführungswillen in Bezug auf die Arztpraxis gehabt, andererseits kündigt man trotzdem dem Personal wegen einer Betriebsaufgabe. Es ist faktisch also möglich eine kassenärztliche Zulassung zu erwerben und dabei den Betriebsübergang zu umgehen, ohne Konsequenzen dafür zu tragen.

Mit dieser Rechtsprechung wird der § 613a BGB derart umgangen, dass nun MitarbeiterInnen in Arztpraxen bei jedem Wechsel des Chefs um ihren Job fürchten müssen. Ob dies von dem Willen des Gesetzgebers so umfasst ist, erscheint denkwürdig und bedarf einer Klarstellung.